Buchsi zwischen 400 und 1000
oder warum wir auch ein wenig Bornholmer sind
der Winter des Jahres 406 war besonders kalt. Als der Rhein in der Umgebung von Mainz, etwa 300 Kilometer nördlich von Basel, zufror, passierte etwas, das Europa für immer veränderte. Und Herzogenbuchsee statt bloss mit alpinem und römischem auch ein wenig mit Ostsee-Blut versorgte.
Schon eine Weile waren Europas Völker, vor allem des Ostens, unstet auf der Suche nach neuem Land. Statt des kalten Polens oder Weissrusslands lockte der wärmere Westen. Und von Asien her rückten Attilas Hunnen auf alles vor, was sich in den kargen Jahren nach dem Niedergang Roms ein wenig an Zivilisation erhalten hatte. So warteten im heutigen Deutschland die verschiedensten Volksgruppen darauf, in fruchtbare Landstriche Richtung Atlantik vorstossen zu können: Alanen, Burgunder, Sueben und Vandalen zum Beispiel. Aber am Rhein wachten die Römer in unzähligen Kastellen über ihren gallischen Besitz und verhinderten einen Rheinübertritt.
Weinkenner aus dem Meer zwischen Malmö und Danzig
Nun war das Gebiet des heutigen Belgiens oder Frankreichs nicht leer. Die Römer waren eben zum Beispiel noch dort. Erst 70 Jahre später ging das bis anhin grösste Imperium der Geschichte unter. Aber noch jede Menge Land war in Westeuropa ungerodet, die Bevölkerungsdichte war klein, und ausserhalb des römischen Machtbereichs gab es wenig staatliche Strukturen, die Eindringlinge hätten abwehren können. So fluteten die Stämme im kalten Winter 406 mit oft zehn- oder gar hunderttausenden von Mitgliedern über den gefrorenen Rhein Richtung Westen. Als der Fluss einige Wochen lang kein Hindernis sondern ein bequemer Marschweg war, nützten auch die Kastelle zur Verteidigung nicht mehr viel. Einige der Völker, wie die Vandalen, zogen grad weiter nach Spanien und von dort nach Nordafrika.
Eins der vorstossenden Völker, das später für exzellenten Rotwein und frugale Feste berühmt werden sollte, kam sozusagen aus dem Meer. Die Burgunder siedelten ums Jahr 200 im heutigen Westpolen und auf der Insel Bornholm, in der Ostsee zwischen Malmö und Danzig gelegen. Die Insel hatte im Althochdeutsch einen vertrauter klingenden Namen: Burgundarholm. Sodass die neuen Eindringlinge in Belgien und Frankreich um 406 eben nicht «Borner» sondern «Burgunder» hiessen.
Wenig Neigung zum Schriftlichen
Während die Römer jede Menge Dichter und Staatsmänner hervorbrachten, deren schriftliche Produkte heute noch dazu dienen, GymnasiastInnen mit Übersetzungsübungen zu quälen, war Schreiben bei den Völkerwanderungs-Stämmen kein bevorzugtes Hobby. Was man über sie weiss, haben wenn schon die Römer aufgeschrieben, wenn es zu Kämpfen und Schlachten kam. Oder pinselschwingende Archäologen haben später das Eine oder Andere ausgegraben, was dann aufgrund typischer Gefässverzierungen oder besonderer Speerspitzen-Formen den Vandalen oder den Burgundern zugeordnet werden konnte.
Am Ende des weströmischen Reiches um 476, so weiss man es ziemlich präzis, hatten sich die Burgunder in einem Gebiet zwischen Langres im Norden (etwa auf der Höhe von Freiburg im Breisgau) und Arles im Süden inklusive in Genf niedergelassen. Das war das Resultat römischen Zuckerbrots und deren Peitsche. Mal musste Rom die Burgunder hart zusammenklopfen, wenn sie gebietsmässig allzu übergriffig wurden, wie 435 im südlichen Belgien. Mal waren sie als Mitstreiter Roms gefragt, als die Hunnen 451 das römische Gallien existenziell bedrohten. Die Burgunder, Westgoten und Römer unter deren Feldherr Aetius stoppten die Hunnen unter Attila auf den katalaunischen Feldern nördlich von Troyes. Was uns möglicherweise davor bewahrte, heute ungarisch zu reden. Belohnung für die überlebenden Burgunder bildete die Zuweisung des hügeligen Siedlungsgebietes im heutigen Osten Frankreichs, das im oberen Teil nun Franche Comté, im unteren Teil Rhonetal und Provence heisst.
Friedliche Völkervermischung auch im Oberaargau
Und was hat das nun alles mit Herzogenbuchsee zu tun? Die «alten» Burgunder hatten im fünften Jahrhundert nicht nur lokale Dorf-Anführer sondern regelrechte Könige. (Später gab es dann sozusagen «neue» Burgunder, mit Philipp dem Guten oder Karl dem Kühnen und ziemlich wehrkräftigen Eidgenossen, die durchs Dreinschlagen in Grandson reich wurden. Aber das ist eine andere Geschichte.) Burgunder-König Gundahar fiel 436 in einer Schlacht gegen Attila. Sein Sohn Gundioc war dann bereits ein relativ sesshafter König in Burgund, und Gundahars Urenkel Gundobad (bis 516) konnte das mittlerweile burgundische Gebiet etwas arrondieren. Aus jetziger Sicht schwer zu verstehen gehörten zu «Burgund» nicht nur heute französischsprachige Gebiete, sondern auch deutschsprachige: Oberwallis, Bern und der Aargau. Also auch Herzogenbuchsee mit seinem ehemals reichen römischen Gutshof und bestimmt einer kleinen Siedlung um den heutigen Kirchhügel rum.
Auch dieses Gebiet war bei der Ankunft der Burgunder nicht leer gewesen. Im fünften und sechsten Jahrhundert, als die Burgunder zu siedeln begannen, rodeten da schon Alamannen den Wald ob Thörigen, fischten im Inkwilersee und jagten auf der «Linde». Die Zuwanderung der Burgunder scheint aber relativ konfliktlos abgelaufen zu sein: Über Schlachten oder auch nur Gefechte, auf die sich die rauhen Alamannen sonst bestens verstanden, ist nicht zu berichten.
Wie man damals im Oberaargau gesprochen hat, ist aber leider nicht mehr zu konstruieren. Wer etwas schrieb, tat es lateinisch. Da die Burgunder ursprünglich Germanen wie die Alamannen waren, könnte es eine Art Althochdeutsch gewesen sein. Die Burgunder im jetzigen Frankreich umgekehrt passten sich rasch der romanischen Sprechweise an. Um 700 gab es im Reich der Burgunder offenbar romanischsprachige Westburgunder und germanischsprachige Ostburgunder, uns zum Beispiel.
Die Frage, was denn nun genau zwischen den Jahren 400 und 1000 im Oberaargau oder speziell in Herzogenbuchsee abgegangen ist, lässt sich damit nicht viel genauer beantworten. Es bleibt eine weitgehend weisse Stelle im Geschichtsbuch: Wie genau wir von einer Mischung aus verbliebenen Römern, einigen Alamannen und wohl noch etwas weniger Burgundern als Teil des «Burgunderreichs» im Jahre 886 zu ostfränkischen Alamannen wurden, deren Land durch ein oder mehrere Legate dem süddeutschen Kloster St. Peter im Schwarzwald gehört, liegt ziemlich im Nebel der Geschichte. Immerhin, eine Zeitlang waren wir im Oberaargau echte Untertanen von burgundischen Königen. Das anarchistisch-halbdemokratische Element der späteren Schweiz ging somit doch aus einem etwas schmalbrüstigen Royalismus hervor. Auch wir BuchserInnen hatten einst einen König.
Sicher ist ausserdem, dass Karl der Grosse, im Jahre 800 gekrönt, ein gemeinsames Franken-Reich schuf. Das umfasste nach modernen Grenzen Frankreich, die Beneluxstaaten, die Schweiz, den westlichen Teil der Bundesrepublik, Österreich, Oberitalien und Ungarn. Es liess also «Burgund» erst mal verschwinden. Als sein Reich nach wenigen Jahrzehnten zerfiel, gab es 843 im Vertrag von Verdun zwischen Frankreich und Deutschland erneut ein Mittelreich, dasjenige von Lothar I. Es umfasste von Ostfriesland her via Holland, Loth(a)ringen, Burgund, Südfrankreich und Oberitalien ein Gebiet, das so gross wie heute Frankreich ist. Der Oberaargau gehörte zu diesem Mittelreich, während die Ostschweiz zum «Deutschland» von Ludwig dem Deutschen gehörte. Aber schon knapp 30 Jahre später hatten sich die Grenzen erneut verschoben, und Ludwig der Deutsche und seine Söhne beherrschten jetzt praktisch die gesamte Deutschschweiz und den grössten Teil der Westschweiz. Bis in den Verträgen von Verdun und Ribemont nur zehn Jahre und ein paar Schlachten später formell wieder ein Königreich Hochburgund entstand, inklusive der halben Schweiz mit unter anderem dem Oberaargau.
Das blieb dann so, bis sich die innerschweizer Bauern und etwas später Berner und Zürcher ihrer externen Adeligen mit Waffengewalt entledigten und ein Management Buyout, nämlich die Eidgenossenschaft, auf die Beine stellten. Das damals ziemlich originelle Gebilde aus Stadt- und Landgebieten verliess dann, ziemlich gewachsen und noch wehrhafter, 1648 Deutschland auch ganz formell.
Schwacher Staat, starke Kirche und ein kreativer Geschichtsschreiber aus Glarus
Nachdem die Römer um 450 ihre beherrschende Stellung in Mitteleuropa verloren hatten, waren wichtige Teile ihrer technischen, politischen und militärischen Errungenschaften unter dem Ansturm der «wandernden» Völker vom Tisch der Geschichte gewischt worden. Die Burgunder etwa kannten das Glas nicht mehr. Sie konnten keine Wurfmaschinen konstruieren, und ihre Häuser waren erst mal eher wieder Holzhütten als Steinpaläste, wie die mondäne Villa damals auf dem Buchser Kirchhügel. Wie viele der burgundischen und alamannischen Siedler hier irgendjemandem Steuern zahlten, ist unbekannt. Der Mangel an Schriftlichem, Voraussetzung für eine effiziente Steuererhebung, deutet daraufhin, dass es nicht viele waren. Und auch die übrigen zwei (später) wichtigen Dienstleistungen des Volkes für die Herrschenden, der Kriegsdienst und der Frondienst, haben keine Spuren hinterlassen. Der «Staat» war ohne Bürokratie und ohne stehendes Heer offensichtlich schwach, während der Boden eh privaten lokalen Adeligen oder nach Schenkungen den Klöstern gehörte.
Wenn wir hier in Buchsi also halbwegs echte Burgunder sind, bleibt noch die Frage, wie es um den Begriff «Kleinburgund» steht. Der nämlich wurde für unser Gebiet fürs 14. Jahrhundert genannt, als etwa die Gugler, arbeitslose Söldner aus dem französisch-englischen Krieg, kurz und erfolglos über den Oberaargau herfielen. Der Begriff zierte aber damals keine Briefköpfe oder Türschilder von Gemeindehäusern. Er war schlicht eine Erfindung des kreativen Glarner Geschichtsschreibers Aegidius Tschudi (1505 bis 1572). In seiner Chronik, die mit dem Jahr 1001 begann und das erste grosse Schweizer Geschichtsbuch war, erklärte er die Region zwischen Bern und Aargau zu «Kleinburgund». Wie die Geschichte von Gundahar bis zum Königreich (Hoch-)Burgund ums Jahr 1000 herum zeigt, nicht völlig zu Unrecht. Und eine grosse Weinhandlung mit Pinot Noir aus der Originalregion haben wir in Herzogenbuchsee ja auch immer noch.
Februar 2021 Hans Kaspar Schiesser (hks)
Literatur: Grossartig – «Burgund, das verschwundene Reich – Eine Geschichte von 111 Jahren und einem Tag» von Bart Van Loo; 2020.
Und immer noch gut: «Geschichte der Schweiz und der Schweizer (Band I) von Ulrich Im Hof et. al.; 1982