Jakob Wiedmers Roman «Flut»
Als Sechsundzwanzigjähriger kam der erfolgreiche Buchser Antiquitätenhändler Jakob Wiedmer im Jahr 1904 aus Athen in die Heimat zurück. Fast sofort wurde er Leiter der Ausgrabungen der Pfahlbauten am Burgäschisee. Kurz danach arbeitete er an Grabhügeln der Hallstatt-Zeit im benachbarten Subingen. Und lernte irgendwann in dieser Zeit auch die Missionarstochter und Hotelière Maria Stern, die zehn Jahre älter war als er, kennen. 1904 heirateten sie und führten kurz darauf zusammen in Wengen «Hotel und Pension Stern + Beausite». Das Engagement als Hotelier dauerte nicht lange. Der rasante Umbruch des Berner Oberlandes in den Boom-Jahren des Tourismus faszinierte Wiedmer derart, dass er umgehend dazu – nebenbei als Erstlingswerk – einen Roman schrieb: «Flut». Er kam 1905 bei Huber in Frauenfeld heraus. Das 400-Seiten lange Werk brachte Wiedmer für seine Hoteliers-Karriere kein Glück. Die massgebenden Wengener Familien waren derart erbost über den Roman, dass, so sein Biograf Karl Zimmermann, «der «Nestbeschmutzer» ziemlich fluchtartig von Wengen nach Bern gezogen sein muss».
Wiedmer wurde im Anschluss daran Vizedirektor des Historischen Museums des Kantons Bern. Was aus heutiger Sicht fast unbegreiflich ist. Denn der ehemalige KV-Lehrling und Ex-Hotelier Wiedmer hatte keinerlei Hochschulabschluss aufzuweisen, dafür aber reiche Erfahrung mit Archäologie und Kunsthandel. Und er hatte immerhin bereits bewiesen, packend schreiben zu können. Was aber hatte denn nun am Roman die Oberländer dermassen erzürnt?
Worum es geht
Im Berner Oberland-Dorf Stägen (= Wengen) hat ab 1890, als die Erschliessung mit der Bahn beschlossen wurde, ein rasanter Bauboom eingesetzt. Pensionen und Hotels schiessen aus dem Boden. Der Tourismus verändert das Bild der Landschaft ebenso wie das Leben der Einheimischen, die bisher Bauern, eventuell auch schon Träger für vor allem englische Touristen waren.
Im Zentrum des Romans stehen zwei Familien: Die eher armen Eichers in der «Waldegg» und die reichen Aareggers im «Steinbühl». Vater Eicher stirbt schon zu Zeiten, als seine Kinder Uli, Hans und Emma noch klein sind. Mutter Marei zieht die drei Heranwachsenden genügsam und unter vielen Opfern gross, mehr heimlich als offen unterstützt von Benedikt «Bänz» Aaregger, einem reichen Dorf-Aussenseiter und nahen Verwandten von Hotelier Aaregger, aber verfeindet mit seiner eigenen Sippe. Hans, der früh ein Talent fürs Holzgestalten und Schnitzen entwickelt, wandert nach einer Lehre als Bildhauer aus, zunächst nach Paris, dann in andere europäische Hauptstädte. Derweil wird im Oberland die Wengernalpbahn WAB gebaut, die das Leben in Stägen radikal verändert, wie sie es vorher schon im früher erschlossenen Gletschbach (= Lauterbrunnen, wie eine Buchser Kennerin des Oberlandes glaubwürdig versichert) getan hat. Viele Bauern, die schon bisher untereinander eher neidisch als solidarisch waren und schon zu agrarischen Zeiten heikle Fertigkeiten im heimlichen Grenzsteinverschieben bewiesen hatten, wurden nun teilweise rasch reich. Grund: Die Bahn kaufte ihnen für teilweise sehr viel Geld auch landwirtschaftlich schlecht nutzbares Land ab. Gab es vorher nur zwei Hoteliersfamilien im Dorf, die Aareggers und die Feiss, so wurden es jetzt rasch mehr. Nicht nur Einheimische bauten Pensionen, es gelangte auch auswärtiges Spekulationskapital nach Stägen. Die Familien überboten sich im Kampf um Bauleute, die besten Bauplätze und nachher um die nobelsten, das heisst zahlungskräftigsten Gäste.
Um diese Zeit kehrt Hans Eicher nach Stägen zurück. Er hat sein gutes Einkommen als Kunstmöbelschreiner («Schnitzler») beim Hotelbau, bleibt aber Aussenseiter im Dorf, das von einer kleinen und ziemlich korrupten Elite von einem halben Dutzend Familien beherrscht wird. Vollends böse wird es für die Eichers, als Bänz Aaregger stirbt und sein beträchtliches Erbe nicht an seine mit ihm verfeindete Familie sondern vollumfänglich an die Eichers geht. Und dann toppt noch eine Romeo-und-Julia-Geschichte den Konflikt. Hans und Dorothea, Hotelier Aareggers einzige Tochter, kennen sich noch vom Kindergarten her und verlieben sich, wenn auch heimlich. Die Mésalliance würde von Vater Aaregger, der darüber hinaus auch noch zur Frömmelei neigt, auf keinen Fall geduldet. Als Dorothea schwanger wird und Hans und sie heiraten wollen, rastet Aaregger gegen Tochter und Bräutigam aus. Dorothea stürzt, kurz bevor sie von Hans befreit werden kann, im Hotel schwer und stirbt kurz darauf. Unfall oder nachgeholfen? Wiedmer lässt es offen.
Das macht die Situation für die Eichers, die mittlerweile für Tochter und Schwiegersohn eine eigene Pension gebaut haben, nicht leichter. Der Gemeinderats-Clan, dem auch Aaregger angehört, verhindert unrechtmässig sowohl die Strassen-Erschliessung der Eicher-Pension, die aus dem Erbe von Bänz problemlos bezahlt werden könnte, als auch den Anschluss ans Wasserleitungsnetz. Im Showdown am Schluss zündet ein Dorflümmel aus dem Dorf-Clan die Eicher-Pension an. Die Feuerwehr kommt zwar, bleibt aber praktisch untätig, weil man Eichers das Unglück gönnt. Die Eichers selbst können nicht löschen, weil ihnen der Wasseranschluss verweigert wurde. Nun kommt just in dem Moment der Föhn auf und verwandelt die brennende Eicher-Pension in einen mächtigen Glutherd. Da versucht die Feuerwehr plötzlich doch noch zu löschen – zu spät. Die Mehrheit der neuen Pensionen brennen wegen dem weiten Glutwurf ebenfalls ab, viele unversichert. Das Böse, das man Eichers angetan hat, fällt aufs Dorf zurück. Eichers verkaufen ihr Land, wandern ins Gürbetal aus und bauen dort mit den Fähigkeiten vor allem des «Schnitzlers» eine neue Existenz als Bauern und Schreiner auf.
Kritische Würdigung
Wiedmers literarische Leistung ist schwer zu übertreffen. Innerhalb weniger als einem Jahr wird der Antiquitätenhändler zum Hotelier und schreibt auch noch einen literarisch bemerkenswerten 400-seitigen Roman. Dem liegen äusserst detaillierte Beobachtungen des Lebens im sich wandelnden Bergtal zugrunde. Womöglich gingen auch Erfahrungen in den Roman mit ein, die seine Mutter, die von Frutigen nach Herzogenbuchsee zog, mitgebracht hatte. Wie Neugier und Neid das Leben der Bauern und Herbergsbesitzer prägen, wie korrupte Dorfpolitiker Fremde schikanieren, wie arrogante Gäste Personal und Pensionsbesitzer ausnutzen und unter Druck setzen, ist meisterhaft beschrieben. Eindrücklich sind auch die Passagen über den Bahnbau und die Ablehnung der fremden, vor allem italienischen Arbeiter durch die (meisten) Einheimischen. Kommt es zu Mord und Totschlag dabei, weil Alkohol um 1890 und 1900 im Bergtal eine dominierende und üble Rolle spielt, hat ein Einheimischer deutlich bessere Chancen, glimpflich davonzukommen als ein Fremder. Die Dorfmafia, wie heute in der Türkei oder Ungarn, spielt auch in die Justiz hinein.
Das brillante Sozialportrait der Gegend um Rotenbalm (Interlaken), Gletschbach und Stägen trifft mit Sicherheit die heiklen Punkte im Zusammenleben, wie sie der zugezogene Wiedmer wohl zu einem guten Teil selbst erlitten hat. Um zu verstehen, was sich vor rund 120 Jahren in den Fremdenverkehrsorten des Berner Oberlandes abgespielt hat, ist Wiedmers Werk immer noch ein Schlüsselroman, auch wenn das Werk kaum mehr greifbar ist. Wie Neid und Gier Menschen verändern, hat Wiedmer praktisch zeitlos beschrieben.
Sein Stil, zwischen dem von Gotthelf und Maria Waser anzusiedeln, macht allerdings Einlesezeit nötig. Im Schildern der Zerstörung alter, bäuerlicher Werte, erinnert «Flut» da und dort an B. Travens Südamerika-Romane, in denen amerikanische Bananen-Firmen die bisher stabilen und relativ erträglichen Sozialstrukturen mit eben den gleichen Mechanismen kaputt machen. «Flut», und damit ist die des fremden Geldes und die der Touristenströme gemeint, liest sich vor allem in Covid-19-Zeiten mit Gewinn. Und im Beobachten der zwar immer neugierigen, aber oft im direkten Verkehr wortkargen und hintenherum arg tratschenden Art der Berner Oberländer war Wiedmer ein Meister. Wie sein Held, der «Schnitzler», mit seinen künstlerischen Truhen und Buffets. Und gehen mussten ja beide.
Zu biografischen Details von Wiedmer siehe unter «Persönlichkeiten» auf dieser Webseite.
Literatur und Links
• Jucker, Ines: Das Leben eines Berner Archäologen; in: Der kleine Bund, 20. Dezember 1968
• Waser, Maria: Land unter Sternen; Zürich, 1930 (Wiedmer ist das 30 Seiten lange Kapitel «Das Genie» gewidmet)
• Zimmermann, Karl: Jakob Wiedmer-Stern, 1876-1928, Archäologe aus Herzogenbuchsee; Jahrbuch des Oberaargau 2000
Mai 2020 Hans Kaspar Schiesser
Hier ist das gesamte Buch «Flut» bereit zum Download