Jakob Wiedmer (1876-1928) – Universalgelehrter aus Herzogenbuchsee
Der „Bäcker-Köbi“ oder Maria Wasers „Genie“
„Roman eines Dorfes“ hat Maria Waser ihr grosses Werk von 1930 genannt. Aber ist es wirklich ein Roman? Die Figuren, die vorkommen, gab es allesamt in echt: Den „Bier-Christen“, natürlich Amelie Moser, die „Grosse Frau“, Koch Bernhard Godi, den „Lampenschorsch“, die „Napolitanerin“ und eben auch das „Genie“, das ein eigenes, grosses Kapitel bekommen hat. Nur gerade Amelie Moser war Maria Waser in ihrem noch heute packenden Buchsi-Werk „Land unter Sternen“ wichtiger.
Dabei kommt der Familienname des Bäcker-Köbi im Waser-Roman gar nicht vor. Ebenso typisch ist, dass er heute im Dorf fast vollständig vergessen ist, Universalgenie und einziger Roman-Autor neben Maria Waser hin oder her. Am ehesten noch haben ihn die bernischen Archäologen in Erinnerung. Lange vor den Hauptgrabungen ab 1941 hatte sich Jakob Wiedmer, wie sein richtiger Name lautet, schon vor Beginn des Jahrhunderts den Pfahlbauten am Toteis-See im Grenzgebiet Bern-Solothurn gewidmet. 2011 wurde der Burgäschisee wegen der Pfahlbautenfunde ebenso wie der Inkwilersee zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt, zusammen mit andern 54 Pfahlbauten-Funden im voralpinen Gelände der Schweiz. In der Schilderung Maria Wasers zum jungen Jakob Wiedmer klingt das so:
„Ja, und eines Tages wagte er sich an Ausgrabungen am See, und dabei erging es ihm nicht etwa wie unserm Pfarrer, der einen einfachen Baumstamm aushob, den er in seinem Entdeckertaumel für einen Einbaum ansah. Köbi fand wirkliche Pfahlbauüberreste, Topfscherben und allerlei Gerät, und unsere Bewunderung wuchs ins Grenzenlose, als Uli [Dürrenmatt; hks] dem Schüler die kostbaren Spalten seiner Volkszeitung öffnete.“
Der zugezogene Bäckerssohn
Köbi Wiedmer wurde 1876 in Bern geboren. Seine Eltern, die aus Sumiswald und Frutigen stammten, übernahmen, als er noch ein Kind war, die Bäckerei in der Kirchgasse. Der Junge, zwei Jahre älter als Maria Waser, war nicht nur in der Sekundarschule sensationell gut, er konnte offenbar auch meisterhaft die Lebkuchen im Geschäft der Eltern gestalten. Ausserdem besass er eine „grossartige Postmarkensammlung“, lernte noch als Kind Italienisch und Russisch („der gescheiteste Bub des Dorfes“ gemäss Maria Waser) und rettete dem Suppenkari bei dessen Hausbrand die Dorfchronik. Was auch heisst, dass sich Buchsi doch auf seltsame Weise treu bleibt: Eine Dorfchronik gibt es immer noch und brennen tut es in unserm Dorf auch immer noch überdurchschnittlich häufig.
Bäcker-Köbi war offensichtlich schon als Heranwachsender ein Universalgenie. Er kannte gemäss Maria Waser sämtliche heimischen Pflanzen, erstellte ein Herbarium, war ein Meister in Fremdwörtern und schrieb schon als schmächtiger Junge, der er war, an einem Ritterroman.
Als der Junge von der Sek abging, war jedermann und auch jede Frau im Dorf überzeugt, dass er studieren müsse. Aber auch finanzielle Zusagen für die Studienfinanzierung oder das Zureden von Amelie Moser nützte nichts: Sein Vater hatte für Gschtudierte nichts übrig, der Junge sollte etwas Handfestes lernen. Köbi war es egal, das Studium mit dem vielen Sitzen war für den Unsteten kein Traum. Er machte eine kaufmännische Lehre, nicht zuletzt, weil das beispielsweise (späteres) Reisen verhiess. In der Tat nahm er unmittelbar nach der Lehre in Athen eine Stelle in einem Handelshaus an. Dabei entstand seine Begeisterung für Antiquitäten und für die Archäologie. Er kopierte in der Freizeit antike Münzen, die später den Weg in die universitären Sammlungen in Bern und Zürich fanden. Und als er in einem Rebberg in Korinth antike Gefässe fand, kaufte er sie dem Bauern ab und schmuggelte sie zwischen Import-Rosinen in die Schweiz.
Der archäologische Autodidakt
Heute wäre Jakob Wiedmers Karriere in unserer bürokratie-lastigen und abschlusszeugnis-geilen Welt nicht mehr möglich. Aber um die Jahrhundertwende hatten Talente ohne Uni-Abschluss noch eine Chance auf akademische Karrieren. Nach weiteren Ausgrabungen am Burgäschisee wurde Wiedmer 1905 Konservator der archäologischen Abteilung des historischen Museums des Kantons Bern. 1904 heiratete er Maria Stern, eine Missionarstochter, die in Indien geboren wurde, und bekam mit ihr 1906 eine Tochter. Er machte Grabungen in Subingen, Jegenstorf, im Rossfeld in Bern in und Bäriswil, vor allem aber im Keltengrab von Münsingen, sein archäologisches Meisterwerk. Das trug ihm unter anderem das Präsidium der „Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte“ ein und 1907 wohl vor allem auch das Direktorat des historischen Museums des Kantons Bern.
Aber Wiedmer war ein unruhiger Typ, der mit seinen zahlreichen Begabungen und Fähigkeiten womöglich nicht immer gemäss den Erwartungen der Schweizer Zivilgesellschaft zurechtkam und wenig Sitzfleisch bei einem Job im Büro zeigte. 1910 trat er 34-jährig als Museumsdirektor zurück. Heute würde man wohl „im gegenseitigen Einvernehmen“ sagen, denn im Herbst vorher blieb er zur Irritation der Berner einige Monate in Istanbul auf einer Reise verschollen, mitten im Amt.
Bäcker-Köbi leitete noch einige weitere Ausgrabungen, verschwand aber rasch wieder mit dem Ziel lukrativer Handelsbeziehungen in den Orient und erging sich auch in Spekulationen mit Silberminen in Nordamerika. Das allerdings führte 1914 zu einer währschaften finanziellen Pleite.
Ein gichtiger Romanautor
Wiedmer kam zu Beginn des Ersten Weltkrieges schwer rheumakrank aus den USA zurück und blieb nun zeitlebens auf den Rollstuhl angewiesen. Seinen Tatendrang begrenzte das nur kurz. Als Universalgenie in zahlreichen Gebieten entwarf er Plakate, machte für einige kleinere Erfindungen chemische und physikalische Experimente, schrieb Feuilletons und wurde engagierter (und offizieller) Vertreter schweizerisch-griechischer Vereinigungen.
1905 hatte er bereits einen Roman veröffentlicht: „Flut“, eine Geschichte um die problematischen Nebenwirkungen des Tourismus-Booms im Berner Oberland. Der Roman ist heute nur noch in Bibliotheken zu bekommen. Das Werk machte aber im Berner Oberland so viel Ärger, dass sich Wiedmer bei späteren Besuchen dort vorsehen musste, wenn er erkannt wurde. Nestbeschmutzern mit sozialem und ökologischem Touch wollte man es im konservativen Oberland, in dem grad einige Familien mit Engländern, Deutschen und Franzosen steinreich wurden, nicht leicht machen. Ans Haus in Herzogenbuchsee gebunden wagte sich Wiedmer in seinen letzten Lebensjahren nach dem ersten Weltkrieg nun an einen zweiten Roman: „Kyra Fano“, die Geschichte der Befreiung Griechenlands von der osmanischen Besetzung zwischen etwa 1798 und 1840. Fano Hanum, wie die weibliche Hauptperson offiziell hiess, war eine faszinierende Leitfigur des griechischen Widerstandes gegen den sadistischen und machthungrigen Ali Pascha, finanzierte zeitweise die Befreiungsbewegung massgebend mit heiratete später sogar noch irritierenderweise den früheren Gegner Ali Pascha, bei dem sie aufgewachsen war.
Der Roman hält sich weitgehend an die historischen Details, ist ein glühender Appel ans Selbstbestimmungsrecht der Völker, das damals der amerikanische Präsident Wilson verfocht, und setzt den Heldinnen und Helden des Kampfes gegen die Osmanen ein wunderbares Denkmal. Maria Waser, deren Romanfiguren aber doch deutlich lebendiger und differenzierter gerieten als Wiedmers griechische und türkische Kombattanten, schrieb zum Buch, das erst zwölf Jahre nach Wiedmers frühem Tod herauskam, ein wunderbares Vorwort. Das Buch vollendete Wiedmer, die „Schreibleiche“, wie er sich selbst bezeichnete, 1927. Er hätte es schriftstellerisch offenbar gerne noch überarbeitet. Er schrieb im Juni 1927 über Stil und Personendarstellungen in „Kyra Fano“: „Die künstlerische Seite musste notgedrungen leiden unter meiner Hauptabsicht, ein zuverlässiges Bild des ethnischen und politischen Hintergrundes jener Kämpfe zu geben.“ Das hat er tatsächlich erreicht, und der 346 Seiten lange Roman liest sich auch heute, da die Griechen andere Probleme plagen aber weiterhin eine konfliktträchtige Beziehung zur Türkei besteht, noch immer flüssig und unterhaltsam.
Hans Kaspar Schiesser (hks) Januar 2020
siehe auch Das Buchser Universalgenie Jakob-Wiedmer-Stern wird neu entdeckt
Wichtigste Quellen:
• Karl Zimmermann: Jakob Wiedmer-Stern 1876-1928 – Archäologe aus Herzogenbuchsee; in: Jahrbuch des Oberaargau, Band 2000
• Maria Waser: Land unter Sternen; 1930