Luise Scheidegger (1843-1866)
Vor zweihundert Jahren wurde Gottfried Keller geboren: Er hatte fast nur tragische Liebschaften…
… und die tragischste, Luise Scheidegger, kam aus Herzogenbuchsee
Als Gottfried Keller, einer der grössten Schweizer Literaten aller Zeiten, im Jahre 1890 starb, hinterliess er ein Werk mit vielen bemerkenswerten Frauenportraits. Mit die eindrücklichsten weiblichen Figuren etwa sind Anna und Judith im «Grünen Heinrich» (1854). Im «Landvogt von Greifensee» (1877) hat er gar fünf Frauen liebe- oder lustvoll und teilweise auch erfrischend sarkastisch portraitiert, so, dass der Verdacht aufkommen könnte, er hätte etwas verfremdet seinen gesammelten Angebeteten zu literarischem Gedächtnis verholfen. Sicher aber ist: Mit keiner seiner realen Geliebten oder Möchtegern-Geliebten ist Keller zu einer glücklichen Beziehung gekommen. Zwei Verhältnisse verliefen besonders tragisch und endeten mit dem frühen Tod der Betroffenen: Die Stadtzürcherin Henriette Keller, die 1838 an Schwindsucht starb, und Luise Scheidegger, seine Verlobte, die er 1866 bei ihrem Freitod verlor. Luise kam aus Herzogenbuchsee.
Die begabte Halbwaise aus Langnau
Luise Scheidegger wurde 1843 als Tochter des Arztes Ulrich Scheidegger in Langnau geboren. Ihre Mutter, Rosina Moser, stammte aus Herzogenbuchsee. Sie beziehungsweise ihre Verwandtschaft, sollte bei der späteren Verlobung von Luise mit dem Zürcher Dichter, noch eine Rolle spielen. Aber Mutter Rosina starb schon zwei Jahre nach Luises Geburt. Und als der Vater 1848 eine neue Frau ins Haus holte, stimmte die Chemie zwischen Stieftochter und Stiefmutter überhaupt nicht. Luise kam deshalb fünfjährig nach Herzogenbuchsee zum Fabrikantenehepaar Johann Ulrich Born und Barbara Gygax. Born und Samuel Friedrich Moser waren zu diesem Zeitpunkt die massgebenden Unternehmer im Dorf. 1849 eröffneten sie den Seidenbandweberei-Grossbetrieb am «Rankhof», dem heutigen Gebäude vom Christen-Beck. Mosers älteste Tochter, die berühmte Amelie, war vier Jahre älter als Luise, ihre Schwester Luise Moser drei Jahre älter und die dritte Schwester, Berta, vier Jahre jünger. Die drei Moser-Schwestern und Luise galten als Freundinnen.
Die Halbwaise aus Langnau wuchs damit wohlbehütet und im reichen Unternehmer- und Kaufmanns-Haushalt gegenüber der «Sonne» an der Zürichstrasse, der späteren Tuchhandlung Schaad, auf. Als die frühbegabte Pianistin in Genf am Konservatorium ihr musikalisches Diplom erwarb, konnte Johann Born nicht mehr mit seiner Pflegetochter feiern: Er war 1856 gestorben, als Luise erst dreizehn war. Die Pianistin war beliebt im Dorf, offenbar ausserordentlich hübsch und hatte bereits einige Musikschülerinnen. Aus den wenigen Beschreibungen von Luise könnte man schliessen, dass sie gelegentlich auch zu Depressionen neigte. Maria Waser beschrieb es als «tiefes, leicht zu erschütternde Gemüt des Mädchens».
Der Zürcher Dichter und Keira Knightley aus Buchsi
Es gibt über Luise Scheidegger nicht allzu viele Quellen. Werner Staub hat im Jahrbuch-Artikel von 1982 die Quellenlage wohl ziemlich ausgeschöpft. So ist nicht ganz klar, ob Luise Gottfried Keller schon 1865 als Zweiundzwanzigjährige in Zürich getroffen hat. Nachweislich begegneten sich Keller und Luise im Frühjahr 1866 in Zürich. Die Buchserin war zu Besuch bei Karl Gottlieb Wegmann, zu diesem Zeitpunkt zürcherischer Gefängnisdirektor. Wegmann war ursprünglich Pfarrer und hatte 1852 bis 1854 in Herzogenbuchsee gelebt. Er pflegte damals zweifellos Umgang mit der kleinen Luise, denn seine Frau war die Schwester von Luises Mutter Rosina Moser.
Während des fünfwöchigen Besuchs in Zürich war die Begeisterung von Keller und Luise gegenseitig offenbar so gross, dass sie sich in diesem kurzen Zeitfenster auch grad verlobten. Da beide nicht zu den Persönlichkeiten gehörten, die im 19. Jahrhundert den ersten Preis für Spitzen-Spontaneität bekommen hätten, kann man annehmen, dass sie sich tatsächlich schon 1865 getroffen hatten. Luise als gebildete und belesene Person dürfte sicher auch in der Lage gewesen sein, die literarischen Fähigkeiten des häufigen Gastes von Gefängnisdirektor Wegmann richtig einzuschätzen und zu würdigen.
Gleichzeitig war Kellers Vorliebe für eher zierliche Frauen bekannt. Schon seine Jugendliebe Henriette Keller hatte zu ihnen gehört und gemäss zeitgenössischen Beschreibungen auch seine spätere Winterthurer Geliebte Luise Rieter. Luise Scheidegger sieht auf den beiden Fotos, die erhalten sind, zweifellos hübsch und zierlich aus, ein bisschen wie die junge Keira Knightley in «Love actually» oder für die Rentnergeneration unter den LeserInnen wie Audrey Hepburn.
Aber wie gross die gegenseitige Liebe in jenem Frühjahr 1866 auch gewesen sein mag: Es gab nach der Rückkehr von Luise in den Oberaargau bald dunkle Wolken. Keller, als Zürcher Staatsschreiber auch eine hochpolitische Persönlichkeit, war medial zu diesem Zeitpunkt massiv unter Druck, vor allem vom Winterthurer «Landboten». Und da nun eine Tochter aus gutem Hause bald eine ewige Liäson mit dem bekannten Zürcher Dichter einzugehen gedachte, sickerte rasch nach Buchsi, dass Keller nicht nur fürs Dichten und Protokollieren sondern auch für eine etwas zu innige Neigung zu alkoholischen Getränken bekannt war. Das dürfte im Hause Born-Gygax, auf nicht sonderlich grosse Begeisterung gestossen sein. «Da war im Dorf eine kluge Frau», wie Maria Waser schrieb, «der hatte man hinterbracht, dass der grosse Dichter allzusehr dem Weine zugetan war, und bittere Erfahrung des eigenen Lebens liess es ihr als Pflicht erscheinen, das junge Mädchen zu warnen – sei es bloss, um dieses zu veranlassen, auf den Bräutigam einzuwirken, sei es, dass sie tatsächlich an die Auflösung einer Verbindung dachte, die ihr verhängnisvoll schien.»
Tod im Teichlein
Es hätte gar nicht verhängnisvoller kommen können. Wieweit Luises vermutete Neigung zur Depression, wieweit gutgemeinte Warnungen oder böser Dorftratsch die Seele des Mädchens verdunkelten, wird kaum je zu eruieren sein. Am 12. Juli 1866 jedenfalls bat Luise ihre drei Moser-Freundinnen am späten Nachmittag noch, mit ihr zum Burgäschisee zu laufen. Ob mit der Absicht, sich bereits dort zu ertränken, ist auch offen. Die drei Freundinnen kamen jedenfalls nicht mit, hatten sogar eher etwas Spott für Luise übrig. Am nächsten Tag, dem 13. Juli, fand man Kellers Verlobte leblos mit dem Gesicht nach unten im kleinen Teich hinter der Born-Villa.
War die «kluge Frau», die Luise warnte, die Mutter der drei Moser-Freundinnen, also Samuel Friedrichs Frau? Kam Gottfried Keller zur Beerdigung nach Buchsi? Machten sich die Moser-Schwestern ein Gewissen, weil sie das Verhängnis von Luise nicht erkannt hatten?
Kellers Nachlass gibt darüber auch keine Auskunft. Was Luise betrifft, hat man die Dokumente nach seinem Tod, vor allem Briefe, was ja wieder auf eine längere als bloss mehrwöchige Beziehung schliessen lässt, vernichtet. Nur ein nachgelassenes Gedicht weist noch auf Regungen von Keller betreffend Luises Tod hin:
Die in der Morgenfrüh in leisen Schuhen
Die Ruh gesucht und mir die Unruh gab…
Und dann darf man heute noch spekulieren, ob die hübsche Salome (der «Distelfink») in Gottfried Kellers Novelle «Der Landvogt von Greifensee» der unglücklichen Buchserin Luise Scheidegger nachgezeichnet ist, oder ob dort eher Luise Rieter ein literarisches Denkmal bekommen hat.
Hans Kaspar Schiesser – Oktober 2019
Quellen:
• Waser, Maria: Land unter Sternen, 1930 (S. 142 bis 144)
• Staub, Werner: Christina Luise Scheidegger 1843-1866 – Die Braut von Gottfried Keller; in: Jahrbuch des Oberaargau Jg.1982
• Baumann, Walter: Luise – Gottfried Kellers fast totgeschwiegene Braut; in: Tages Anzeiger Magazin 15/1986