Orchideen im Oberaargau
Wildwachsende Orchideen
In Gärtnereien und Grossverteilern können farbenprächtige, grossblütige Orchideen aus den Tropen gekauft werden. Aber haben Sie in der Schweiz schon einmal wildwachsende Orchideen gesehen? Doch, doch, das gibt es. Sogar mehr als man denkt, aber nicht überall. Die Orchideen der Schweiz sind wie alle Wildblumen unscheinbarer und kleinblütiger als ihre gezüchteten Verwandten – jedoch nicht minder schön. In der Schweiz wurden bisher über 70 Orchideenarten gefunden. Sie kommen vom tief gelegenen Tessin bis ins Hochgebirge (2800 m ü. M.) vor. Am häufigsten sind Orchideen in den Kalkgebieten des Juras und der Voralpen anzutreffen. Aber auch im Mittelland hatte es einst viele Orchideen, vor allem auf mageren Trocken- und Feuchtstandorten sowie in lichten Wäldern.
Standortansprüche und Lebensweise der Orchideen
Orchideen kommen vom nassen Moor bis zum sturmgepeitschten Felsgrat vor. Spezialisten wachsen im dunkeln Fichtenwald sogar ohne Blattgrün, andere gedeihen an heissen Felsen, auf Kieswegen oder in märchenhaften Moospolstern. Es scheint fast, als gäbe es für jeden Lebensraum eine darauf spezialisierte Orchideenart. Einige entwickeln sich nur ganz langsam. Von der Keimung bis zur ersten Blüte kann es bis fünfzehn Jahre dauern. Schon deshalb brauchen sie besonderen Schutz. Für die Pflege der Biotope ist es unumgänglich, die Standortansprüche der einzelnen Arten genau zu kennen. Nicht jede Art kann an jedem Ort leben. Aufgrund ihrer besonderen Lebensweise wachsen Orchideen auch an einem seit langem bekannten Standort nicht jedes Jahr. Bei einigen Arten, wie z. B. der Bienenragwurz, kommt es besonders nach intensiven Blühjahren zu Ruhephasen. Bei erloschen geglaubten Vorkommen keimen plötzlich wieder neue Exemplare, wenn sich die Standortsbedingungen verbessern, und andere können erlöschen, wenn die Bedingungen nicht mehr optimal sind.
Alle Pflanzen stellen gewisse Anforderungen an einen Lebensraum, damit sie dort keimen, wachsen und sich vermehren können. Die meisten Schweizer Orchideenarten lieben basische bis neutrale Böden. Zudem brauchen die viele Arten warme und mindestens mittelhelle Standorte. Orchideen sind konkurrenzschwach, vor allem im Wurzelbereich. Deshalb wachsen sie bevorzugt auf mageren Böden, die sind naturgemäss nur dünn bewachsen sind. Eine der besonderen Eigenheiten der Orchideen ist ihre Zusammenarbeit mit den Bodenpilzen. Sie sind bereits für die Keimung, aber auch fürs spätere Wachstum meist auf im Boden vorhandene spezielle Mykorrhiza-Pilze angewiesen. Die Pilze liefern ihnen am Anfang die Nährstoffe, die sie zum Teil von Waldbäumen beziehen.
Einzelne Orchideenarten können nur von ganz bestimmten Insekten bestäubt werden. Lebt kein geeigneter Bestäuber in der Nähe, blüht die Orchidee zwar wunderschön, produziert aber keine Samen. Dies ist mit ein Grund, warum Orchideen so selten sind und es problematisch ist, sie zu versetzen.
Als Ausgleich zu diesen sehr speziellen Ansprüchen wurden Orchideen mit einer effizienten Verbreitungsstrategie ausgestattet. Orchideen produzieren extrem grosse Mengen ganz kleiner Sämchen (10´000–20´000 Stück wiegen 1 Gramm), die durch den Wind über grosse Distanzen verbreitet werden können. Damit wird die Chance grösser, dass eines an einen günstigen Standort gelangt.
Immer wieder gibt es Gartenfreunde, die wildwachsende Orchideen ausgraben, in der Meinung, dass diese ihren Garten verschönern würden. Doch wenn sie überhaupt weiterwachsen, gehen sie meist bald einmal ein. Einerseits ist es ganz schwierig, die nötigen Standortbedingungen nachzuahmen, sodann fehlen oft die geeigneten Bodenpilze. Noch wenn sie wächst, fehlen möglicherweise die nötigen Bestäuber, damit sie sich vermehrt. Deshalb sind alle Orchideenarten gesamtschweizerisch geschützt. Es ist doch viel schöner, sie in der Natur zu bewundern – und wenn schon, gibt es gezüchtete Arten, die auf Gartenverhältnisse angepasst sind.
Orchideenvorkommen
Der Oberaargau lässt sich bezüglich Orchideen in drei Teilregionen aufteilen: das Molassehügelland, die Plateaulagen des tieferen Mittellands und den Jurasüdfuss.
Jurasüdfuss
Der Bipper Berg ist der Anteil des Oberaargaus am Jura. Das meiste Gebiet wird allerdings landwirtschaftlich intensiv genutzt und ausgedehntere Magerstandorte ausserhalb des Waldes finden sich erst auf den oberen Allmenden und den Alpweiden. An den warmen, kalkhaltigen Südhängen wachsen auf trockenen Magerwiesen und -weiden Orchideenarten, die im zentralen und westlichen Mittelland nahezu verschwunden sind.
Mittelland
Ein Blick auf die Verbreitungskarten zeigt, dass das westliche Mittelland heute die orchideenärmste Region der Schweiz ist. Der Hauptgrund ist der Mangel an geeigneten Lebensräumen. Moränen und Schotter bilden auf flachen Standorten die verbreitete Unterlage der Böden. Diese waren zwar am Anfang kalkreich, wurden aber bereits ein bis mehrere Meter tief entkalkt. Somit ist der Boden im durchwurzelten Bereich sauer. Dies ist eine normale Entwicklung, die mit dem Alter eines Bodens immer tiefer greift. Somit kommen im Mittelland Orchideen nur an Orten vor, wo tiefere, noch nicht entkalkte Bodenschichten zu Tage treten. Dies ist natürlicherweise an steilen Hanglagen, auf Kuppen und Spornen, an hohen Böschungen sowie in Bacheinschnitten der Fall. Manchmal tritt auch kalkreiches Hangwasser aus und kalkt saure Böden wieder auf. Verkehrsträgerböschungen, Flachdächer und Neubauten, wo frisches, noch kalkreiches Material aufgeschüttet wurde, sind interessante Ersatzstandorte. Dadurch können immer wieder Orchideen beobachtet werden, die direkt auf einem Weg oder unmittelbar neben der Fahrbahn wachsen. Besonders Ränder von mit Kalkschotter belegten Forststrassen sind beliebte Orchideenstandorte. Ein weiterer Grund für die Orchideenarmut liegt darin, dass Moränenböden nährstoffreich sind und deshalb fruchtbar. Ihre üppige Vegetation lässt den Orchideen keine Chance. Viele der ehemals artenreichen Magerwiesen wurden aufgedüngt und Nasswiesen drainiert. Zudem werden Mähwiesen heute geschnitten, lange bevor die Orchideen absamen konnten. Über 90% der Orchideenstandorte befinden sich deshalb im Wald, dem letzten Refugium magerer Böden. Wenn der Wald dann noch stufig aufgebaut ist und viel Laubholz enthält, stimmen auch die Lichtverhältnisse, und die Orchideen kommen dann nicht nur am Waldrand, sondern auch in den Waldflächen vor.
Molassehügelland
Im Molassehügelgebiet (z.B. in den Buchsibergen) kommt es an steileren Hanglagen zu einer laufenden Bodenabschwemmung. Deshalb entstehen oft nur geringmächtige Böden. Die Orchideen erreichen mit ihren Wurzeln so die kalkhaltigen, anstehenden Felsschichten. Deshalb ist dort die Orchideendichte höher als in flachen Lagen. Der Sandstein der verbreiteten Oberen Meeresmolasse besteht zwar nicht aus Kalk, aber die Sandkörner sind durch aus dem Meerwasser ausgefällten Kalk zusammenzementiert worden. Der Sandstein der Süsswassermolasse enthält viel weniger Kalk und bietet den meisten Orchideenarten keinen geeigneten Untergrund. Manchmal besiedeln Orchideen als Pionierpflanzen aufgelassene Gruben, in denen Sandstein abgebaut wurde. Die verschiedenen Arten des Waldvögeleins lieben warme, trockene Südhänge mit Buchenwald. In frühen Jahren blüht bereits im April das schneeweisse Langblättrige Waldvögelein (Cephalanthera longifolia), gefolgt vom Bleichen Waldvögelein (Cephalanthera damasonium) Anfang Mai und vom Roten Waldvögelein (Cephalanthera rubra) Ende Mai.
Wald
Magerwiesen sind selten geworden. Aufgrund der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung sind sie auf Trockenstandorte (z.B. Strassenböschungen) und Feuchtgebiete (Ufer von Fliessgewässern, extensiv genutzte Feuchtwiesen und Moore) beschränkt. Viele ehemalige Magerstandorte sind durch Nährstoffabschwemmungen aus den bewirtschafteten Flächen aufgedüngt worden. Damit bleibt für Orchideen primär der Wald als Lebensraum. Doch auch dort wird über Abgase immer mehr Stickstoff eingetragen. Im Wald ist einer der wichtigsten Faktoren das Licht. Waldorchideen kommen mit halbschattigen Bedingungen aus, mindestens so viel Licht brauchen die meisten aber. Da Waldstrassen in einem dunklen Wald Lichtschneisen sind, blühen Orchideen manchmal sogar am Wegrand von Asphaltstrassen. Eine der häufigsten «Strassenrandorchideen» ist die Breitblättrige Stendelwurz (Epipactis helleborine). Die bräunliche Vogelnestwurz (Neottia nidus-avis) ist eine, die mit wenig Licht auskommt. Sie hat kein Blattgrün und ist deshalb auch nicht auf Licht für die Photosynthese angewiesen. Sie wird ihr Leben lang von Bodenpilzen ernährt. Bei zu viel Licht überwuchern grosse Staudenpflanzen wie Brombeeren und Goldruten, bzw. durch das heute erhöhte Stickstoffangebot Brennesseln, Schmalblättriges Weidenröschen und auf feuchten Böden die Spierstaude die für Orchideen günstigen Standorte.
Massnahmen zum Schutz und zur Förderung von Orchideen
Orchideen gehören zu den besonders schönen, oft wohlriechenden, aber seltenen und darum gesamtschweizerisch geschützten Blumen. Viele Orchideenvorkommen, die die ältere Generation unter uns noch kannte, sind heute bereits erloschen oder drohen ohne Gegenmassnahmen einzugehen. Hier sind die Gemeindebehörden gefragt, denn für den Vollzug des Arten- und Lebensraumschutzes sind im Kanton Bern die Gemeinden zuständig. Private und Forstdienste sind in der Regel sehr kooperativ. Aber die meisten haben keine Ahnung, dass in ihrem Gebiet Orchideen wachsen. Schützen und fördern kann man jedoch nur, was man kennt. Deshalb ist es wichtig, dass die Orchideenstandorte erst einmal erhoben werden, damit bekannt ist, wo die Vorkommen liegen. Sodann braucht es eine Beurteilung, welche Vorkommen gefährdet sind. Hierfür sind die Behörden auf Unterstützung angewiesen. Gemeinnützige Organisationen wie die AGEO (www.ageo.ch – Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen), die IG Berner Orchideen (www.berner-orchideen.ch), lokale Kenner und private Ökobüros wie weg>punkt (www.weg-punkt.ch) helfen weiter. Sie evaluieren die Standorte der Orchideen, erarbeiten Pflegekonzepte und unterstützen Gemeinden, Private und Forstdienste bei der Umsetzung. Eine ganz einfache Massnahme, die nichts kostet, aber viele Orchideen- und andere Blumenvorkommen bewahrt, ist, die Waldstrassenränder erst im Oktober, anstatt im Sommer zu mähen.
Fazit
Orchideen sind im Oberaargau zwar selten geworden, aber sie müssen es nicht bleiben. Dank Bewirtschaftern, die mit Liebe und Freude am Schönen ihre Parzellen pflegen, sind noch einige schöne Standorte erhalten geblieben. Mit wenig Aufwand und einfachen, meist kostenneutralen Massnahmen können gerade im Wald die Bedingungen entscheidend verbessert werden. Voraussetzung ist, dass die Standorte einmal erfasst werden.
Zusätzliche Auskünfte können gerne beim Autor eingeholt werden, der auch Meldungen von Orchideenstandorten entgegennimmt (christian.gnaegi(at)weg-punkt.ch, 077 / 454 65 83).
Weitere Informationen im Jahrbuch des Oberaargaus 2013 ab Seite 99
Das Jahrbuch kann hier heruntergeladen werden
Christian Gnägi Juni 2018