Jeremias Gotthelfs „Der Oberamtmann und der Amtsrichter“
Gotthelfs Erzählung über den Niederönzer „Fluhacker-Sepp“ Burkhalter (der Amtsrichter) und den Wangener Landvogt Rudolf Emanuel von Effinger ist eine der ersten literarische Verarbeitungen der Region um Herzogenbuchsee überhaupt. Der Text von 1851 kam 1853 heraus, ein Jahr vor dem Tod von Gotthelf und 24 Jahre nachdem er Herzogenbuchsee verlassen hatte. Der Schalk Gotthelfs, aber wohl auch der von Josef Burkhalter (1787 bis 1866), blitzen da und dort, vor allem beim überraschenden Ende, durch. Die Erzählung ist eine wunderbare Ode Gotthelfs an seinen Freund in Niederönz, mit dem er bis zu seinem Tode in einem regen Briefwechsel stand. Bemerkenswerterweise hat Gotthelf darauf verzichtet, seinen damaligen Erzfeind Effinger literarisch im Text zu vernichten.
Worum es geht
Genau fünf Szenen umfasst die Erzählung, die sich dadurch auch für ein Theaterstück eignet. In der ersten Szene besucht der Oberamtmann von Wangen mit seinen Verwandten, dem Oberst und dessen Sohn, dem Leutnant, einen seiner Amtsrichter, den Josef Burkhalter auf seinem Hof in Niederönz. Ortsnamen und echte Familiennamen kommen keine vor; der „Fluhacker“ heisst im Text „Säublume“, weil rund um den Hof in der Gegend im Frühling immer der erste Löwenzahn blühte.
Die hohen Herren aus Wangen wurden in der ersten Szene auf Burkhalters Hof reich bewirtet. Man redete über Landbau und Jagd, und der Leutnant war von Burkhalters Töchtern über Massen angetan. Die wurden von Mutter Burkhalter allerdings wirksam abgeschirmt.
Noch beim Besuch war eine gemeinsame Jagd anberaumt worden, die dann kurz später, allerdings ohne Effinger, hingegen mit dem Oberst und dem Leutnant, auch stattfand. Sie ging nicht besonders erfolgreich aus und führte vor allem dazu, dass sich der Leutnant schmählich im Wald verirrte, nur wegen Vitamin B nicht vom Jagdaufseher gebüsst wurde und sich vor allem vor seinen Cousinen in Wangen, den Töchtern Effingers, blamierte. Auch die dritte Szene handelte von der Jagd, und ebenfalls mit einem prominenten Abwesenden. Burkhalter hatte diese zweite Jagd zwar organisiert, konnte dann aber wegen eines dringenden Amtsrichtergeschäftes nicht mittun. Seine Jagdkumpels verfolgten die gejagten Hasen mit ihrer Hundemeute bis vors Schloss in Wangen und knallten dort praktisch vor der Türe des Landvogts einen der Hasen ab. Was den hohen Herrn im Schloss ungemein erboste, schon fast jähzornig werden liess und zur Ächtung des Amtsrichters führte, den für den Verlauf der Jagd natürlich keine Schuld traf. Weder die deutlich einfühlsamere Frau Landvogtin noch die Umgebung Effingers konnten den Schlossherrn beruhigen.
Beim nächsten Amtsgerichtstermin in Wangen suchte Burkhalter das Zweiergespräch mit Effinger, um Fakten zu klären und bereits vorgebrachte Entschuldigungen zu vertiefen. Aber Effinger verweigerte die Aussprache. Der Konflikt vertiefte sich. Da machten sich – Szene vier – einige Zeit darauf eine Reihe von Rehen, die im Gegensatz zu den Hasen und Ringeltauben zum Kompetenzbereich Effingers gehörten, über die Saaten von Burkhalter her. Er zeigte den Missstand in Wangen an, bekam aber kein Echo und erlegte einen der Rehböcke, die in eh schon mageren Zeiten Acker und Ertrag schändeten.
Jetzt kochte der Konflikt erst recht hoch. „Im ersten Zorn riss (der Oberamtmann) am Glockenzug, dass er sprang, und rief nach dem Landjäger, dass der Kalk von den Mauern sprang. Der und der alte Polizeidiener sollten den Amtsrichter gefangen nehmen und ihn herbringen, ob gefesselt oder nur so einer von hinten und einer von vornen, wissen wir nicht.“ Nur der Amtsschreiber und Effingers Frau konnten die gröbste Katastrophe verhindern, die wegen des Mangels an Rechtsgrundlage zweifellos Effinger mehr geschadet hätte als Burkhalter.

Der Fluehacher in Niederönz, in Gotthelfs Erzählung die «Säublume», bis heute ein stattlicher Bauernhof in Herzogenbuchsees Umgebung
Burkhalter bekam aber zumindest eine Art Hausarrest, er durfte „den Fuss nicht ab seinem Herd (Erde) setzen“. Aber der Amtsrichter wusste, dass der Konflikt nur in Bern gelöst werden konnte. Also lud er sich den „Herd“ (die Mutten, = Erde und Gras) auf seinen Pferdewagen, auf Bock und Ladefläche, und fuhr nach Bern, wo die Regierung eine Art Bürgersprechstunde abhielt. Dort – Szene fünf – schmunzelte man ob seiner List, den Hausarrest formell zu beachten und doch inhaltlich zu brechen. Auch der Oberamtmann war in einem leisen Anflug von Reue oder zumindest Vernunft nach Bern gefahren, um Rat oder Unterstützung einzuholen. Einer der Regierungsräte, der beide Parteien kannte, lud sie, ohne dass sie es voneinander wussten, zum Mittagessen ein, wo die Versöhnung zustande kam. Happy End und letzter Satz: „Die Sache muss sich auf die Länge recht gut gemacht haben, denn als im nächsten Jahr der Oberst mit dem Amtsrichter jagte, war der Oberamtmann auch dabei.“
Kritische Würdigung
1853 steckte Berns Demokratie noch in den Kinderschuhen. Gotthelf beschreibt im „Oberamtmann“ denn auch folgerichtig die Berner Landschaft in einem Zustand, in dem die gnädigen Herren nur knapp in ihrer Willkür eingeschränkt werden. Effinger jedenfalls sehnt sich in der Erzählung offensichtlich nach den Zeiten zurück, in denen die Obrigkeit stärker nach eigenem Gutdünken mit denen umgehen konnte, die ihre Interessen zu verletzen frech oder ungeschickt genug waren. Nach dem Jagdintermezzo ums Schloss in Wangen jedenfalls drängen düstere Gedanken dem Regierungsstatthalter (wie er heute heissen würde) durch den Kopf: „So wie der Herr es auffasste, war dies wirklich das Düpflein auf dem i, und wenn dies ungefähr fünfhundert Jahre vorher geschehen, so wäre nach einer Stunde eine schnaubende Schar aus dem Tor geritten, hätte die Säublume niedergebrannt, den Amtsrichter samt Weib und Kindern an dem Nussbaume aufgehängt.“
Dies immerhin waren tempi passati, aber den Standesdünkel beim Oberamtmann – und etwas weniger beim Oberst – gab es noch in reichem Masse. Dagegen hatten sich Bauern wie Burkhalter für alles, was über die Plackerei auf den Feldern hinausging, noch zu rechtfertigen, etwa ob sie zur Jagd überhaupt berechtigt waren. Nix freie Schweiz für freie Bürger um 1853 im Kanton Bern also. Und Gotthelf ist ein guter Beobachter dieser strikten Klassengesellschaft, in der Industrie-Arbeiter noch nicht vorkommen, weil es sie um 1829 herum, da die Geschichte etwa spielt, noch nicht gab. Ein tröstliches Korrigendum zum konservativen Verständnis von Macht auf dem Lande immerhin ist der Regierungsrat in Bern. Einer davon „wäscht“ Effinger gehörig den Kopf in der letzten Szene, kurz vor dem Versöhnungs-Essen.
Das kleine Werk, das in der Rentsch-Ausgabe von 1982 72 Seiten umfasst, gehört auch sonst zu den reifsten von Gotthelf. Der Erzählstrom ist flüssig, abstrakte religiöse oder philosophische Erläuterungen kommen kaum vor und wenn schon eher als gut verständliche soziologische Kurzbetrachtungen. In der Beschreibung der Charaktere ist es ein kleines Meisterwerk. Bezeichnenderweise schneiden die Frauen, sowohl Burkhalters wie vor allem die des Landvogts, gut ab. Sie haben formell – wie wir es heute in islamischen Gesellschaften kritisieren – nichts zu melden, aber nutzen informell ihr Berater- und Einflüsterer-Potenzial weise und geschickt. Die jungen Frauen kennen die Vor- und Nachteile ihrer (allfälligen) Attraktivität, und die Mütter wissen das ebenfalls bestens einzuschätzen.
Die genauen Beschreibungen der Jagd im Übrigen sind leicht erklärlich. Gotthelf war zu seiner Buchser Zeit aktiver Jäger. Und ein guter Kenner der Rechtslage. „Er kennt das Gesetz und lässt nicht weniger als 6 Artikel in literarisch verarbeiteter Form in den Text einfliessen. Bezeichnenderweise nimmt er Bezug auf die Verordnung von 1817, die zur Zeit seiner jagdlichen Tätigkeit in Kraft gewesen war, nicht auf das zur Zeit der Entstehung der Erzählung gültige Gesetz von 1832“, schreibt Peter Lüps 1997 in seinem Artikel „Die Situation des Rehwildes um 1830“ im Oberaargauer Jahrbuch, in dem er detailliert auf die Erzählung eingeht..
Hat sich Gotthelf mit der Erzählung an Effinger für die Niederlage im Bollodinger Schulstreit gerächt? Gotthelf wurde 1829, nachdem sich Effinger beim Thema Lehrergehalt zusammen mit den reichen Bollodinger Bauern gegen das Schulsystem durchgesetzt hatte, als Pfarrgehilfe nach Bern strafversetzt. Aber Effinger kommt im Werk trotzdem leidlich davon. „Gegen den Oberamtmann habe er eigentlich nichts, wenn er nur nicht so vom Zorn sich hinreissen liesse“, verkündet Burkhalter in der Erzählung dem Regierungsrat. Der versöhnliche Schluss zeigt jedenfalls, dass Gotthelf knapp zwei Dutzend Jahre nach dem Streit über der Sache steht. Umgekehrt ist das kleine Werk zweifellos eine Hommage an den Fluhacker-Sepp aus Niederönz, den Bauern, der ihm ein wichtiger Feedback-Geber für seine Werke war und ein offensichtlich geschätzter Partner bei philosophischen und politischen Überlegungen. Denn Gotthelf war ja beim Disputieren auch kein einfacher Mitmensch. Umso bemerkenswerter, dass die Freundschaft zum Oberaargauer Bauer so lange und so innig war.
Hans Kaspar Schiesser ; Januar 2018
Literatur und Links
http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-oberamtmann-und-der-amtsrichter-2485/1 (Volltext der Erzählung innerhalb des Projektes Gutenberg-DE). In Buchform findet sich die Erzählung im Band acht der neunbändigen Reihe im Rentsch-Verlag, vorhanden z. B. in der Kornhausbibliothek in Bern.
Cimaz, Peter: Gotthelf im Briefwechsel; in: Jahrbuch des Oberaargau, 2001
Fehr, Karl: Jeremias Gotthelf; Zürich, 1954
Joss, G.: Briefe von Jeremias Gotthelf (A. Bitzius) an Amtsrichter Burkhalter – Zu seinem hundertjährigen Geburtstag 4. Okt. 1897; Bern, 1897
Lüps, Peter: Die Situation des Rehwildes um 1830 in Gotthelfs „Der Oberamtmann und der Amtsrichter“; in: Jahrbuch des Oberaargau, 1997
Schüpbach, Hans und Künzi, Hans: Auf Gotthelfs Spuren durchs Emmental; Thun, 1997
Schüpbach, Hans: Erlebnisse aus dem Oberaargau in Gotthelfs Werken; in: Jahrbuch des Oberaargau, 1997