Amélie Moser-Moser (1839 bis 1925)
Auf die Frage, wer von den historischen Buchser Persönlichkeiten die grösste Wirkung nach aussen, also weit über die Region hinaus gehabt habe, gibt es keine einfache Antwort. Jeremias Gotthelf käme wahrscheinlich der erste Platz zu. Aber war er ein Buchser? Oder nicht eher einer, den Lützelflüh für sich reklamieren kann und der nur gut vier Jahre in Herzogenbuchsee verbracht hat? Auf der Shortlist figurieren sicher auch Samuel Friedrich-Moser (1809 bis 1891), der den Grundstein für Herzogenbuchsee als Industrieort legte und Patriarch der wichtigsten Familie im Dorf wurde, oder sein Sohn Robert Moser, zeitweise der wichtigste Eisenbahningenieur der Schweiz. Oder Ueli Dürrenmatt, der witzige und reim-feste Nationalrat und Volkszeitungs-Redaktor, der aber gleichzeitig auch ein übler Sozialistenhasser und Antisemit war? Gut vertreten müssten auf der Shortlist auch die Frauen sein: Maria Waser, die wichtigste Literatin des Oberaargau und natürlich Lina Bögli mit ihren unvergessenen Reise-Berichten vor allem aus Ostasien und Ozeanien.
Die «Rühmerei» ging ihr auf die Nerven
Aber wenn schon nicht Gotthelf, so ist es wohl Amélie Moser, welche über 50 Jahre lang das Dorf und vor allem seine sozialen und Bildungsinstitutionen geprägt und nach aussen gewirkt hat. Der heute noch mächtige Zürcher Frauenverein entstand nach ihrem Vorbild, in der Schweiz wurden Arbeiterheime und alkoholfreie Gaststuben nach dem Vorbild des „Kreuz“ gegründet. Sie holte Grössen wie Theodor Kocher oder Albert Schweitzer nach Herzogenbuchsee und begeisterte sie für ihre Pionierprojekte bei Bildung und Gesundheitswesen. Und wohl nur der Umstand, dass sie kein eigenes grosses schriftliches Werk hinterlassen hat, verhindert, dass sie auch bei den nationalen Feministinnen, denen sie viele Wege geebnet hat, höhere Weihen geniesst. Die sie allerdings für sich auch immer abgelehnt hat. Die „Rühmerei“, erinnerte sich Tochter Amy, ging ihr eher auf die Nerven.
Ohne Frage ist Amelie Moser die zentrale Figur in der Geschichte des „Kreuz“. Ohne sie hätte es das „Kreuz“ als Pionier-Einrichtung des Frauenvereins nicht gegeben, und ohne sie wären nicht dreissig Jahre lang in hohem Rhythmus Institutionen wie der Kinderhort, der hauswirtschaftliche Unterricht, die öffentliche Bibliothek, die Armenpflege oder die Gemeindekrankenschwester „erfunden“ worden.
Früher Lese-Eifer
Amelie wurde im Elternhaus in Herzogenbuchsee, der „Scheidegg“ als drittes Kind von Samuel Friedrich Moser und seiner Frau Amalia Gugelmann 1839 geboren. Neben Bruder Robert (*1838) erreichte auch Emil (*1837), der später Nationalrat wurde, einige Berühmtheit. Von den insgesamt elf Brüdern und Schwestern hatte sie vor allem zu Robert und Luise (*1840) engere Beziehungen. Das älteste der insgesamt fünf Moser-Mädchen entwickelte früh Leseeifer. „Da der Vater den frühen Feierabend bestimmt, steht sie am Morgen umso früher auf, um im oft eiskalten Zimmer ihre Sprachstudien fortzusetzen und die deutschen und englischen Klassiker zu lesen“, beschreibt Elisabeth Keller ihre Lesewut. Mit fünfzehn geht das gescheite, aber ungewöhnlich verschlossene Mädchen ins Welschland, lernt also neben Englisch nun auch noch Französisch.
Zurück in Herzogenbuchsee wird sie als „gute Partie“ heftig umworben, weist aber alle Freier ab. Mit 22 will sie Erzieherin werden. In diese Zeit fällt auch ein Briefwechsel mit dem drei Jahre älteren Cousin Albert, einem hervorragenden Klavierspieler, der sich unter anderem in Paris und Istanbul als Kaufmann internationale Erfahrungen holt. Als Albert 1861 geschäftlich nach Java (heute Teil von Indonesien) fährt, wächst die Begeisterung der beiden füreinander vor allem mit den Briefen, die eifrig zwischen Europa und Ostasien gewechselt werden. Albert, dessen Vater an einem Frankreich-Geschäft fast verlumpt ist, kann es sich nach einigen Jahren finanziell leisten, offiziell um Amelie zu werben, was er in Abwesenheit durch seinen Bruder tun lässt. Erfolgreich.
Gleich nach der Heirat fahren die beiden im Februar 1868 nach Batavia (heute Jakarta), wo sich Albert eine stabile Existenz als Einkäufer aufgebaut hat, mit grossem Haus, Bediensteten, natürlich auch Ross und Wagen. Das Glück scheint zuerst gross, als im Dezember Tochter Amy geboren wird. Dann folgt die Katastrophe auf dem Fuss, als beide Eltern um den Jahreswechsel herum an einer der vielen Tropenkrankheiten erkranken. Albert erliegt ihr im März. Schon im April fährt die immer noch kranke Witwe Amelie mit ihrem Baby und einer indonesischen Kinderfrau die lange Reise durch den neu eröffneten Suezkanal zurück in die Schweiz. Sie zieht ins Moserhaus am Rössliplatz, das ihr Grossvater 1796 bauen liess und das heute die „Calendula“ beherbergt.
Die schwarze Frau
Die grosse, fast immer schwarz gekleidete und zeitlebens in Folge des Java-Jahres kränkliche Frau, widmet sich fortan der Erziehung von Amy und ganz allgemein dem Dorf, vor allem in sozialer und kultureller Hinsicht. Mit Maria Wasers Vater, dem Dorfarzt Krebs, geht sie als Arzthelferin und autodidaktische Operationsschwester in die Buchsiberge, um die Bauern ganz praktisch mit den Erkenntnissen und Fähigkeiten der modernen Medizin vertraut zu machen. Sie ist die zentrale Figur des 1870 gegründeten Frauenvereins, beginnt fast im gleichen Jahr mit diversen und fast immer erfolgreichen Projekten (siehe Geschichte Frauenverein) und finanziert dem Frauenverein 1890/91 das „Kreuz“. Sie bekämpft damit nicht nur die mangelnde Bildung der (Arbeiter-) Frauen, sondern auch den Suff deren Männer und mit der Eröffnung des Volksbades im „Kreuz“ auch die mangelnde Hygiene der ärmeren Haushalte. Im Löhli-Wald lässt sie Ruhebänke aufstellen und am Sonnenplatz spendet sie den grossen vierstrahligen Brunnen. Sie verbessert die Grünanlage bei der Kirche und macht 1899 den politischen Vorstoss, es sollen zwei Frauen in die Armenbehörde gewählt werden. 1902 regt sie die Vorstudien für das erste Buchser Spital an. Und immer, wenn Geld benötigt wird, das auch sie nicht unbegrenzt hat, organisiert sie mit den Frauenvereins-Frauen eine Lotterie oder einen Basar, etwa um die Inneneinrichtung des 1905 eröffneten Spitals bezahlen zu können. 1913 gründet sie in Herzogenbuchsee die Pfadi- Abteilung. Natürlich ist sie treibende Kraft und Finanz- Organisatorin des „Kreuz“-Anbaues von 1914/15. Den Frauenverein präsidiert sie 55 Jahre lang, bis 1925, ihrem Todesjahr.
Kleines Denkmal in «Land unter Sternen»
Aus heutiger Sicht erscheinen ihre vielen Werke wie selbstverständlich. Denn Sozialfürsorge, Mutterschutz, Altersfürsorge oder auch Frauenstimmrecht, für die sie gekämpft und gearbeitet hat, sind nun staatlich und breit abgestützt etabliert. Um die Jahrhundertwende, im Zeitalter noch des langsam auslaufenden Manchester-Liberalismus und der reinen Männerherrschaft, wurde sie auch in Herzogenbuchsee öfters angefeindet. Ihr Verhätscheln der Armen führe dazu, dass die sich überhaupt nicht mehr anstrengten und erst recht zur öffentlichen Belastung würden. Typisch, dass sich der grosse Ueli Dürrenmatt, der weitherum die öffentliche Meinung beherrschte, nirgends lobend über dieses immense soziale Werk ausliess, das sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte und Buchsi zum extern vielbeachteten nationalen Labor für den gemässigten Sozialstaat machte. Er erwärmte sich deutlich mehr für Eisenbahn- und Finanzfragen oder engagierte sich gegen das Arbeiterinnenschutzgesetz, eine deutliche Opposition also zum grundsätzlich auch bürgerlichen und in keiner Weise sozialdemokratisch geprägten Frauenverein.
Maria Waser hat in ihrem Oberaargau-Roman „Land unter Sternen“ der „grossen Frau“, die ihr als Kind manchmal auch etwas unheimlich in ihrer Strenge war, ein Denkmal gesetzt. Und sie hat erkannt, dass hinter der unnahbaren Fassade auch Verletzlichkeit erkennbar war. „Soviel Krankheit ging durch ihr Leben, so manchen hat sie gepflegt, so manchen sterben gespürt, so manchen aufs Totenbett gelegt – der leise Geruch von Verbandstoff und Arznei wich nicht mehr ganz aus ihren Kleidern; aber das grosse Werk ihres Lebens galt den Gesunden.“