Walter Gfellers Monumentalbuch zum gotischen Masswerk
Wie aus einer Fensterverstrebung das Stil-Leitmotiv einer ganzen Epoche wird
Es begann im französischen Reims. Während bei romanischen Kirchen die Fenster viereckig oder noch häufiger mit einem groben Rundbogen gestaltet waren, zeichnete sich – als Premiere anfangs dem 13. Jahrhundert – das gotische Fenster der Kathedrale in Reims durch revolutionäre Spitzbogen aus. Die wachsenden Flächen der Kirchenfenster erforderten nämlich zwingend eine neue oder zusätzliche Stabilisierung, unter anderem auch gegen den Wind. Und die bot ein neues Bauelement, das die Fenster unterteilte und festigte: Das steinerne Masswerk. Mit dem Flächenwachstum waren dabei nicht nur repräsentative Zwecke verbunden, wie die Steigerung der Ehrerbietung Gottes oder das Zeigen des Reichtums der betroffenen Stadt. Das Kircheninnere erhielt auch schlicht mehr Licht. Bei der 1211 begonnenen Kathedrale von Reims, in welcher später die französischen Könige gekürt wurden, erreichte das Masswerk eine erste Blüte. Ab dann begann ein unaufhaltsamer Siegeszug dieses Ornaments mit statischer Funktion durch ganz Europa, schwergewichtig nördlich der Alpen. In der Schweiz sind die Münster von Basel und Bern hervorragende Beispiele. Aber Masswerke finden sich auch im Schloss Chillon, in der Kirche Churwalden oder im Kreuzgang des Klosters Wettingen, an insgesamt gut hundert Objekten zwischen Genf und Poschiavo.
Dass wir das nun so genau wissen, ist Walter Gfellers umfassendem Buch „Geschichte des Masswerks am Oberrhein“ zu verdanken, das als optisch aufgepeppte Dissertation seit 2017 erhältlich ist. Gfeller unterrichtete lange Jahre an der Sek Herzogenbuchsee, damals schon mit vielen historischen Ambitionen. Nach seinem Ausscheiden aus der Schule studierte er Geschichte, was er mit der Masswerk-Dissertation abschloss. Gfeller ist der wichtigste lokale Historiker Herzogenbuchsees. Die beschriebenen Objekte hat er ausnahmslos alle selbst besucht.
Sein Buch, das rund 340 Masswerke an 280 Objekten in Frankreich, Deutschland, Österreich, Tschechien und der Schweiz beschreibt, hat alle Eigenschaften, ein neues Standardwerk über das Masswerk zu werden. Er zeigt für die auf den ersten Blick unspektakulären Verzierungen den fast unglaublichen Formenreichtum auf und kann nachweisen, wie sich die einzelnen Neuerfindungen von Kloster zu Kloster, von Kathedrale zu Kathedrale verbreitet und dann wieder gewandelt haben. Basel zum Beispiel wurde so etwa zum Vorbild der Kathedralen in Burgos (Spanien) und Esslingen (Deutschland). Der Verbreitung der Masswerk-Muster dienlich war natürlich der Umstand, dass es in Europa nicht tausende von Kathedralen-Konstrukteuren gab sondern eher bloss Dutzende. Und die konzipierten als Wander-Ingenieure in Europa, und besonders eben am Oberrhein, sich ähnelnde Bauten und Masswerke. Kein Wunder also, wenn sich Berner beim Anblick des Münsters in Freiburg im Breisgau angeheimelt fühlen. Und umgekehrt natürlich auch.
Gfellers Buch ist kein Lese-Buch sondern mit seinen etwa 700 Abbildungen eher ein Nachschlagewerk. Dem dient auch ein sehr nützliches Glossar – für einmal vorn drin -, bei dem auch dem Laien-Betrachter sofort deutlich wird, warum ein bestimmtes Muster Fischblase heisst oder was ein Dreischneuss ist, nämlich eine Art Stein gewordenes Windrad mit drei geschwungenen Teilen. Besonders liebevoll ist Gfeller der Frage nachgegangen, wie denn die betreffenden Ingenieure und Baumeister jeweils zu ihren neuen Form-Ideen gekommen sind, ohne allerdings eine abschliessende Antwort zu finden. Die Texte im Buch zeigen aber eindrücklich, wie spätmittelalterliche Symbolik, künstlerische Phantasie und Steinmetztechnik eine originelle und – bei genauerem Hinsehen – eben fast unglaublich vielfältige und ästhetisch überzeugende Symbiose eingegangen sind.
Walter Gfeller: Geschichte des Masswerks am Oberrhein
Die Eingebung des entwerfenden Baumeisters und ihre geometrischen Konstruktion
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2016; 50 CHF
(momentan erhältlich u.a. in der Gemeindebibliothek)
Hans Kaspar Schiesser