Judith Arlts Roman über Lina Bögli
Wie die erste Schweizer Reiseschriftstellerin einen Bergsteiger-Rekord aufstellt
„Meine Urgrossmutter hatte in Krakau eine Affäre mit einem polnischen Offizier.“ Wer in einem Roman über die Oberaargauer Schriftstellerin Lina Bögli so schreibt, erfindet befremdlicherweise für die „Boden-Lina“ Nachwuchs. Befremdlicherweise? Hätte ja immerhin sein können. War es aber nicht. Die Roman-Tochter Mira, welche Lina in Sydney 1893 zur Welt bringt, ermöglicht es aber, zentrale Themen aus Lina Böglis Leben gleich aus zwei Perspektiven zu beleuchten: Aus der von Lina selbst, samt eingestreuten Zitaten (jeweils kursiv) aus ihren Tagebüchern. Und aus derjenigen der fiktiven Urenkelin Irena aus Paris, welche die Spuren ihres Urgrossvaters sucht.
Judith Arlt selbst, in Liestal geboren, jetzt in der Nähe von Berlin lebend, sieht ihren Roman als das „Erforschen der Welt der Wörter“. Das ist eine deutlich andere Perspektive als diejenige von Christoph Marthaler, der in seinem Theaterstück Ende der neunziger Jahre Lina Bögli zwar originell, aber nicht sonderlich einfühlsam als schrullige Schweizer Spiesserin auf Grosser Reise dargestellt hat. Und selbst wenn in Arlts Buch zwangsläufig Erfundenes (oder bloss Ergänztes?) eine wichtige Rolle spielt, kommt Arlt Lina Bögli auch deutlich näher als Doris Stump. Die hatte zwar 1990 Linas ersten Briefroman „Vorwärts“ von 1904 neu herausgegeben, aber wiederholt daran gezweifelt, ob Bögli ihre legendäre Zehnjahresreise denn auch wirklich gemacht habe.
Judith Arlts Website ist zweisprachig, deutsch und polnisch (www.juditharlt.de). Das ist kein Zufall. Arlt studierte Slawistik, spricht polnisch und war damit in der Lage, auch fast verschüttete Quellen zu Böglis polnischen Lebensabschnitten, vor allem aber zu ihrer Offiziersaffäre, auszugraben. Der spätere polnische General Julius Bijak kommt auf den 6000 Seiten von Linas Tagebüchern zwar kaum und wenn schon dann nur als „B.“ vor. Zweifellos aber gab es die detailliert beschriebene Romanze im Jahre 1892. Und zweifellos unternahm Lina Bögli ihre erste Reise 1892 bis 1902 durch fast ganz Ozeanien, den USA und England auch als Flucht vor einer nicht realisierbaren festen Verbindung. Eine Heirat zwischen Bögli und dem Offizier Bijak hätte das Paar damals 50‘000 Kronen gekostet, in heutiger Währung praktisch ein Millionenvermögen, ein vom Militär gewolltes Hindernis für eine Mésalliance.
Aber Arlts Roman ist keine romantische Aufarbeitung einer unmöglichen Liebe, die beide Protagonisten 50 Jahre später fast gleichzeitig, aber weit voneinander entfernt sterben lässt: Bögli Ende 1941 fast blind im „Kreuz“ Herzogenbuchsee, Bijak 1943 wohl auch unverheiratet in Polen. Der Roman beschreibt zum Beispiel sehr eingehend Lina Böglis pionierhaften Aufstieg auf den Vulkan Haleakala auf Maui (Hawai) zu Fuss, während die 60 Kilometer lange Strecke heute mit dem Auto bewältigt wird und ihre Begleiter und Begleiterinnen damals, 1897, mit dem Pferd den mühevollen Aufstieg von Meereshöhe null auf 3055 Meter meisterten. Arlts Stärke liegt in inneren Monologen, vor allem aber in unglaublich genauen Beschreibungen etwa einer Klavier-Präsentation, eines Pferdemassakers polnischer Ulanen, oder der mühevollen Suche nach Bögli-Spuren im Dickicht der polnischen Archiv-Bürokratie. Selbst die Feinbeschreibung von Eisenbahntechnik ist, der Rezensent kann es bezeugen, fachlich einwandfrei. Sodass man sich als Leser unwillkürlich fragt: War Arlts Grossvater Eisenbahner, Klavierverkäufer, Geburtshelfer oder Kavallerist?
„Die Welt war schneller als die Worte“, wie das Buch heisst, ist eine sorgfältige Würdigung von Lina, nicht überall süffig zu lesen, aber für alle, die die Welt mit Wörtern erkunden wollen, ein schillerndes, faszinierendes Panoptikum. Das Rätsel um den polnischen Offizier hat Arlt dabei gelüftet. Das Rätsel um Lina, etwa was auch noch sie auf die fast unmögliche Weltreise trieb, bleibt bestehen. Die „erste Reiseschriftstellerin der Schweiz“ hat dennoch hier ein eindrückliches Denkmal bekommen.
Judith Arlt: Die Welt war schneller als die Worte; achter Verlag; Weinheim 2014; 237 Seiten; ca. 30 Franken.
März 2017 – hks