Maria Wasers Geschichte der Anna Waser
Ein Roman von: Maria Waser Erstausgabe: 1913
Anna Waser ist die erste namentlich bekannte Schweizer Malerin. Die ursprünglich aus Rüti/ZH stammende Zürcherin tut sich mit der Sittenstrenge der von Ulrich Zwingli geprägten Limmatstadt schwer und zieht – zumindest im Roman – das lebenslustigere Bern vor. Gerade zu Beginn gibt Waser eine der wenigen Beschreibungen des Berner Rathauses, die es für den Frühbarock gibt. Maria Waser, die nur zufällig den gleichen Namen wie die Malerin trägt (ihr späterer Ehemann, der Archäologe Heinrich Waser, war allerdings ein direkter Nachfahre von Anna Waser), beschreibt auch die planerische und politische Enge der Stadt Zürich eindrücklich und wohl auch präzise. Regensberg und das vorindustrielle Dorf Rüti, in dem Anna Waser ihre ersten Kinderjahre verbrachte, werden ebenfalls als Zürcher Orte gut getroffen. Anna Waser ist wohl nicht nur erfunden ein Opfer des religiös zum Fundamentalismus neigenden, sexfeindlichen Zürcher Barock. Der Roman führt im Übrigen auch einige prominente Zürcher auf, etwa den bedeutenden Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer. Die positivste erwachsene Figur des Romans ist Anna Wasers Onkel, der „Fähndrich“, der mehr es mehr als alle andern vermag, die zürcherische Tatkraft mit Aktivitäten zu paaren, die „aufwühlen und gegen den Strom treiben“.
Worum es geht:
Das Werk trägt Züge einer Biografie, da Maria Waser als Historikerin gründlich recherchiert hat, ist aber dennoch deutlich ein Roman. Er beginnt 1692 in Bern, wohin sie ihr Vater, der Zürcher Amtmann (Chefbeamter) Johann Rudolf Waser, als 14-Jährige zur Ausbildung bei Joseph Werner, einem damals wichtigsten Schweizer Miniaturen- und Portraitmaler zur Ausbildung bringt, inmitten einer ausgewählten Gruppe von kunstsinnigen jungen Männern. Zwei, der Italiener Giulio und der Berner Lukas Stark, beginnen künstlerisch und erotisch für sie eine wichtige Rolle zu spielen.
Giulio wird aber zuhause Justizopfer eines undurchsichtigen Liebenshandels in der dortigen Aristokratie. Und Lukas „Lux“ Stark hat nicht die Geduld zu warten, bis die äusserst talentierte und frühreife Anna erwachsen wird. Die kleine Malerakademie in Bern zerfällt, Anna kehrt nach Zürich zurück und Werner geht etwas später nach Berlin, wo er aber nicht glücklich wird. Der Zürcher Enge im „Haus zum Grauen Mann“ an der Münstergasse entflieht die Künstlerin mit 21 Jahren nach Hessen, wohin sie Graf Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels als Hofmalerin eingeladen hat. Mittlerweile haben der russische Zar und die englische Königin das Talent der jungen Malerin entdeckt. Das künstlerische und persönliche Glück währt aber nur kurz. Anna muss wegen familiärer Zwänge nach Zürich zurückkehren. Bei all ihren Aufgaben für die kranke Mutter und die zur Karriere bestimmten Brüder entwickelt sie ihre Malerei kaum weiter. Mit ihrer Schwester Elisabeth immerhin betreibt sie eine relativ einträgliche Kalligraphie-Werkstatt.
Mit dem Zürcher und später deutschen Dozenten Hans Schlatter entwickelt sie als über Dreissigjährige doch noch eine späte, tiefe Liebe. Das geplante Zusammenziehen in Deutschland wird aber verhindert, weil sie zum Einen ihre Ersparnisse dafür verwenden muss, ihren jüngeren Bruder Heinrich aus den Fängen der Zürcher Pietisten und in der Folge auch der Wucherer zu retten. Zum Zweiten erliegt ihr Bräutigam bei einem Zürcher Aufenthalt den Verlockungen ihrer jüngeren Schwester Esther, worauf der Umzug nach Campen in Ostfriesland dahinfällt.
Da erreicht sie der Ruf ins Künstlerteam von Antoine Watteau in Paris. Bei einem Vorfreude- Ausflug zu ihrem Pastoren-Bruder Rudolf stürzt sie unglücklich von einer morschen Treppe und bleibt gelähmt liegen. Kurze Zeit später stirbt sie (mit 36 Jahren) an Herzversagen. Wenige Tage vor dem Sturz hat sie nochmals zu alter Schaffenskraft zurückgefunden und ein Portrait, das der Italiener Giulio in den Berner Tagen einst von ihr als Fragment hinterliess, genialisch fertiggemalt. Der Roman schliesst allegorisch: „Mit weissem Schimmer durchdrang es Himmel und Erde, verschmolz das Getrennte, und was hart war und eng, löste sich in der milden Glorie seiner allumfassenden Versöhnung.“
Kritische Würdigung:
Wasers Roman ist sicher der beste Zugang zu Anna Waser, der Pionierin der Schweizer Künstlerinnen. Durch die Parallelen zwischen Anna und Maria Wasers Leben, die sich beide als erste Frauen in einer Männerwelt, Maria Waser in derjenigen der Berner Historiker, behaupten mussten, zeigt der Roman eine äusserst gute Einfühlung in die Rollen-Konflikte der jungen Frauen. Es ist an sich sonderbar, dass der Schweizer Feminismus zwar in den letzten Jahren die Buchser Reiseschriftstellerin Lina Bögli (zu Recht) wiederentdeckt hat, nicht aber die literarisch bedeutendere Maria Waser. Das liegt allenfalls auch am etwas schwierigeren Zugang zur Sprache Wasers, die in ihrem ersten Roman mit 35 Jahren die Sprache des Frühbarock zu treffen suchte und wahrscheinlich auch gut getroffen hat.
„Die Geschichte der Anna Waser“ ist im Kern eine Künstlerinnen- und Liebesgeschichte, die tragisch endet. Maria Waser gelang das Künstlerportrait auch deshalb so gut, weil sie sich im Maler-Milieu dank der engen Freundschaft ihrer Familie, der Arztfamilie Krebs in Herzogenbuchsee, zu Ferdinand Hodler gut auskannte. Ausserdem hat sie die inneren Kämpfe Anna Wasers zwischen Religiosität, dem Aufbruch zu aufklärerischem Liberalismus (in Deutschland) und der Liebe äusserst facetten- und bildreich beschrieben. Der 365 Seiten starke Roman liest sich heute allerdings nicht mehr süffig. Er ist als Portrait einer Künstlerin in der Enge der barocken Schweiz und als Beschreibung familiären Alltags für gebildete Frauen in der Schweiz den 18. Jahrhunderts aber einmalig und immer noch eindrücklich.
Zur Autorin: Siehe Kurzbiografie Maria Waser
Literatur und Links:
- Sylvia Steiner (Hrsg.): Maria Waser – Von der Liebe und vom Leben – eine illustrierte Anthologie; Stäfa 1990;
- http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D19101.php (Historisches Lexikon der Schweiz);
- http://gutenberg.spiegel.de/buch/die geschichte-der-anna-waser-7035/1 (kostenlose Online-Version des Romans im „Projekt Gutenberg“);
- http://www.literaturundkunst.net/trostloses-wunderkind/ (Rezension des Anna-Waser-Romans).
Hans Kaspar Schiesser